Die Idee entstand 2007 spontan. Es war eine dieser Ideen, die viral werden, eine Eigendynamik entwickeln und ansteckend wirken. Ausgangspunkt waren Bücher und Erzählungen von den großen Pilgerwegen und dem Wesen des Pilgerns. Einen entscheidenden Anstoß hat uns z.B. das Buch von Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg“ gegeben. Es war auch der Titel, der eine große Faszination ausübte. Keiner von uns war je pilgern und viele waren wenig religiös oder sogar atheistisch aufgewachsen. So war auch ziemlich schnell klar, dass wir uns unseren Pilgerweg nicht in einer Kirche oder in einer Konfession verankern wollten. Wir, das war und ist ein Verein aus Enthusiasten, die glauben, dass das Leben doch einen Sinn haben muss, dass echtes Leben mehr ist, als Leistungserfüllung, arbeiten gehen und ab und zu mal Urlaub machen mit der Familie. Und irgendwie war es sofort klar: „Ich bin dann mal weg“ ist eine Bedingung für „echtes Dasein“. Wir sind auch durch den Pilgerweg zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen.
Eine Frage der Ziele – erste Etappe „Grenzerfahrungen“
„Die Seele des Menschen heilt in der respektvollen und gleichwürdigen Begegnung von Mensch zu Mensch.“ Das war und ist die Grundidee von mannaz-Dasein erleben e.V. Pilgern ist eine gute Möglichkeit, die Erfahrung von Begegnung in Liebe zu teilen und den Pilgern das Rüstzeug für den Alltag mitzugeben. So war uns dann auch sehr schnell klar: „Wir sollten einen eigenen Pilgerweg organisieren! Einen Pilgerweg der Begegnung und nicht einen der inneren Zurückgezogenheit und Abgeschiedenheit.“ Wenn ich an diese stürmische Findungsphase denke, muss ich lachen. Mein Gott, was hatten wir für Ideen! Wir wollten mit unserem Pilgerweg die Welt ein bisschen besser machen. Und wir haben GROSS gedacht: Eigener Pilgerbus mit Zelten, Technik und Begleitteam, Abschlusskonzert mit Xavier Naidoo waren nur zwei unserer Ideen. So haben wir uns hineingestürzt in ein unbekanntes Abenteuer erst an der ehemaligen innerdeutschen Grenze und später dann in der Region Müritz Nationalpark und Naturpark Feldberger Seenlandschaft.
Die erste Grenzerfahrung war die Organisation. Viele rieten ab, hielten es für eine Selbstüberschätzung. Trotzdem fingen wir an. Wir planten und organisierten Unterkünfte, Andachten und Begegnungen. Es gab viel zu tun, wenig Zeit, kein Geld und hohe Anforderungen. Die Vorbereitung und dann der Weg selbst stellten eine intensive Zeit dar, in der so einige ihre persönlichen Grenzen nicht beachtet haben. Geblieben sind die vielen tiefen Erfahrungen, die jeder für sich und auch wir miteinander gemacht haben. Unsere Erfahrungen haben wir gemeinsam mit der Autorin Grit Hübener in dem Buch „Grenzwege. Lebensgeschichten aus einem geteilten Land“ (Brendow Verlag) festgehalten. 2007 und 2008 ist ebenfalls eine Sammlung von Aphorismen, Versen und Gebeten entstanden, die Heiko Kroy in seinem Buch „Geh-Danken“ (Selbstverlag) festgehalten hat. Und mit Hilfe von Grit Hübener und Andrea Klein ist ein wunderschöner Film entstanden, der die Kernerfahrungen des ersten Weges festgehalten hat.
Die ehemalige innerdeutsche Grenze hat sich als eine ungeheuer spannende Region gezeigt. Wir konnten kaum glauben, wie unterschiedlich eine 45 Jahre lang undurchdringbare Grenze die Nachbarn in Ost und West geprägt hat. Nahezu 20 Jahre nach der Grenzöffnung und dem Schwinden der ersten Euphorie wurde diese Prägung in den Gesprächen am Wegesrand für uns spürbar. Wir konnten erleben, wie sehr jeder einzelne Mensch im Osten von der Umwelt, dem System und der eigenen kleinen Gemeinschaft geprägt wurde. In vielen Orten hat die Stasi den Menschen ihren Stempel aufgedrückt. Auch fast 20 Jahre nach dem Mauerfall war in diesen Gemeinden das Misstrauen unter den Menschen spürbar. In anderen Orten, wie in der katholischen Enklave Eichsfeld, hat der Glaube die Menschen geeint. Immer wieder wurden wir überrascht von der Herzlichkeit der Menschen, denen wir begegneten und die uns spontan zu ihren Festen und in ihre eigentlich geschlossenen Gaststätten eingeladen haben.
Besonders präsent in Erinnerung sind mir bis heute die spürbaren Unterschiede zwischen Ost und West. Die Prägung durch die politischen Systeme war hier wie dort auch 20 Jahre nach der Maueröffnung erlebbar: die in vielen Gemeinden allgegenwärtige Bespitzelung auf der einen Seite und der Kampf um das eigene wirtschaftliche Leben und Überleben auf der anderen Seite. Beide Systeme und die darin gemachten Erfahrungen haben Folgen für das eigene Selbstverständnis und die persönliche Sicht der Menschen auf die Dinge.
Begegnungen – Wie geht Versöhnung?
Immer wieder sind es die Begegnungen mit Menschen auf dem Weg, die meine und unsere Erinnerungen bestimmen. An der Geschichte von Walter D. haben wir verstanden, wie die Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs im Kalten Krieg mündete und wie dies die Menschen diesseits und jenseits der Grenze traumatisiert hat. Walter D. ist 1966 in den Westen geflohen, weil er dem System DDR entkommen wollte, und wurde dann im Westen 14 Tage lange als vermeintlicher Spion verhört. In der persönlichen Begegnung haben wir verstanden, wie sich der Kalte Krieg in den persönlichen Lebensgeschichten widerspiegelt, wie die raschen Einteilungen in “Gut” und “Böse” in “Opfer” und “Täter” uns zu schnellen Urteilen verleiten können und uns dann daran hindern, das einzelne Schicksal tief zu verstehen.
Wie meistens, war es zunächst einfacher mit den offensichtlichen Opfern in Kontakt zu kommen. Mit der Frau, die monatelang von der Stasi erpresst wurde, weil sie sich weigerte, informelle Mitarbeiterin zu werden und die dann später ihre Geschichte nicht öffentlich gemacht hat, weil sie sich fürchtete, dass ihr niemand glauben würde. Schließlich war oft schon der Verdacht „IM“ nach der Wende, so etwas wie ein berufliches Todesurteil. 2010 trafen wir dann einen Mann am Gartenzaun, der in seiner Bundeswehruniform und seinen lauten abschreckenden Sprüchen, „Ich wünsche mir die Mauer zurück“ und „Ich war gerne Grenzsoldat und hatte leider nicht die Gelegenheit zu schießen“, schnell als ein Unverbesserlicher und Ewiggestriger abgestempelt war. Heiko hat ihm weiter zugehört und hat verstanden, dass hier ein Mensch vor ihm stand, der mit der Wende alles verloren hat. Er hat ihn eingeladen zu einem Abend der Versöhnung – einer Begegnung zwischen Opfern und Tätern im Pfarrhaus der Gemeinde. Es wurde der Abend, an dem wir bestätigt wurden, dass Versöhnung zwischen Opfern und Tätern möglich ist, wenn beide sich wahrhaft begegnen.
Einen tiefen persönlichen Eindruck haben bei mir auch die vielen gemeinsamen Kilometer und Stunden mit Jugendlichen hinterlassen. Die Verbindung zu dem Einfluss, den die Vergangenheit auf das eigene Leben hat, war den meisten nicht klar. Die intensiven Gespräche, gerade hier an der Grenze zweier ehemaliger Systeme, haben die abstrakten Prägungen der Erwachsenen verbunden mit dem Erleben der Kinder.
Versöhnung findet immer erst in jedem selbst statt.
Eine Chronik der Erkenntnisse, Erfahrungen und Versöhnungsschritte, die jede Pilgerin und jeder Pilger für sich selbst gemacht hat, findet sich in unserem Pilgerblog auf Facebook (jeden Tag hat ein(e) Teilnehmer(in) die persönlichen Erlebnisse des Tages zu Protokoll gegeben. So können auch Menschen virtuell mitpilgern. Inspiriert von den Erlebnissen anderer, kann ich mich auf meine ganz eigene innere Pilgerreise begeben. (Anm. Auf Facebook findet Ihr die Berichte zu den Geh-Danken-Wegen ab 2012, viel Spaß beim Lesen: Link zu Facebook)
Warum wollen wir pilgern – und welche Rolle spielt Gott dabei?
Wir pilgern, weil wir uns neben der äußeren Reise, der Wanderung durch Natur, Landschaft, Dörfer und Siedlungen, auch auf eine innere Reise begeben. Jeder Pilger hat die Chance, sich im Innersten selbst zu begegnen und sich dabei kennenzulernen. Und viele machen dabei auch das, was man eine Gotteserfahrung nennen kann. Bei mir war dies z.B. ein Moment, in dem es mich beim lauten Aussprechen der „Bitte um die Gnade der Heilung“ für einen Jungen plötzlich durchschüttelte. Ich weinte und weinte ohne Grund und ohne Trauer, als ich die Einsicht erreichte, dass Gnade für jeden Menschen und damit auch für mich da ist. So etwas hatte ich zuvor noch nicht erlebt.
Die Frage nach Gott hat mich schon als Kind sehr beschäftigt. Mal waren es die Wolken im Himmel, dann ein weiser Mann mit weißem Bart, dann das ganze Universum und dann war es die Natur und ich war ein Teil davon. Aber irgendwie hindert jede Festlegung in einem Bild, einer Metapher oder einem Gleichnis mich daran zu erfassen, worum es bei Gott und dem Vertrauen in Gott wirklich geht. Das zu erfassen, gelingt uns Menschen in jenem Augenblick, wo wir tiefe Verbundenheit spüren und plötzlich begreifen, dass unsere Erfahrung der Trennung eine Illusion ist. Der Pilgerweg ist auch eine Einladung an all jene Menschen, die diese Erfahrung machen wollen.
Warum pilgern wir…?
Diese Frage hat sich wohl jede(r) aus unserem Team immer wieder gestellt. Kati Fulda-Martens meinte, unser Beitrag kann sein, ohne Urteil auf die Dinge zu schauen, die im Leben von Menschen passiert sind. Ja, das ist ein wesentliches Ergebnis, wenn wir in der Haltung der Liebe pilgern. Denn wie alle anderen Tätigkeiten verbinden wir mit dem Pilgern den tiefen Wunsch, die Haltung der Liebe in die Welt zu tragen. Wir hören zu und schauen hin und können in der Geschichte eines Menschen gleichzeitig diesen Menschen vor uns und unsere eigenen Anteile erkennen. So wird jeder Schritt auf einen Menschen zu, zu einem Schritt zu mir selbst. Und so lernte ich das schlichte “Sosein”, denn im Laufe der Jahre habe ich immer mehr erfahren, wie groß mein Dienst an den Menschen in meiner Umgebung ist, wenn ich „einfach nur“ ganz da bin.
Wir wollten den Pilgerweg von Beginn an als Gemeinschaft tragen und verantworten. Das gemeinsame Tun war somit von Anfang an ein großer Antrieb und gleichzeitig die Quelle zahlreicher wunderschöner Erfahrungen und Erlebnisse. Allerdings auch vieler kleinerer und größerer Schmerzen und Verletzungen, die unsere Beziehungen immer wieder auf eine große Probe stellten. Das Wort Verantwortung spielte dabei eine große Rolle. Die Frage nach der eigenen Verantwortung war auch bei uns lange verstrickt mit den ausgesprochenen und unausgesprochenen Erwartungen der anderen. Ich bin auch heute noch sehr froh in dieser Gemeinschaft zu leben und zu arbeiten. So kann ich lernen, dass meine ganz persönliche Antwort aus meinem Herzen mich nicht trennt, sondern in die Verbundenheit führt. Ich muss nicht länger das tun, was von mir erwartet wird, sondern darf meine ganz eigene Antwort geben und damit meine Verantwortung leben.
Vom Grenzweg zum Ge(h)DankenWeg
Ab 2011 verlegten wir den Weg nach Mecklenburg-Vorpommern. Der Verein hatte sich gewandelt und die Menschen einen festen gemeinsamen Lebensmittelpunkt in Leppin bei Neubrandenburg gefunden. Hier, am Rande der Feldberger Seenlandschaft fand die Verständigung zwischen Menschen, die von unterschiedlichen Systemen geprägt wurden, ihre Fortsetzung. Nicht nur in den Seminaren und Begegnungen, sondern auch beim Essen und täglichen Austausch.
Text von Henning Holst